Bauch- oder Kopfentscheidung – (K)ein Widerspruch

Bei der hohen Taktung neu entstehender Trends in der Arbeitswelt drängt sich die Frage, was uns nach der „Agilitätswelle“ als nächstes begegnet, nahezu auf. Dabei ist einer der wesentlichen Gründe für die hohe Beliebtheit agiler Methoden keineswegs behoben: Unternehmen stehen nach wie vor unter einem enormen Druck, immer flexibler Kundenwünschen zu entsprechen und schneller auf sich ändernde Bedingungen zu reagieren (Peren, 2016). Es gilt trotz zunehmender Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität – der sogenannten VUCA-Welt – schnell, gute Entscheidungen zu treffen. Dabei hat die Anzahl an Entscheidungsoptionen deutlich zugenommen. Mit zunehmender Möglichkeitsvielfalt steigen aber auch die Opportunitätskosten, das heißt fiktive Kosten nicht genutzter Chancen (Witzer, 2012). Auch wer sich richtig entscheidet, verpasst ganz viel. Gleichzeitig nimmt das Risiko falsch getroffener Entscheidungen nicht ab. Hinzu kommt der massive Verfall der Halbwertszeit von Wissen (Sackett, 1996) und das neue Phänomen „alternativer Fakten“ und gefakter Statistiken. „Lügen nach Zahlen“ titelt die aktuelle Ausgabe der ZEIT.

Zusammengefasst gilt es, unter maximaler Unsicherheit, immer wieder schnell richtige Entscheidungen zu treffen, ohne dabei die Opportunitätskosten nicht genutzter Chancen und die verkürzte Halbwertszeit von Wissen aus dem Blick zu verlieren. Das Kaninchen vor der Schlange gewinnt an Identifikationspotential. Was also tun, um nicht vollkommen den Überblick zu verlieren?

In Zeiten der Überforderung wünschen sich Menschen häufig einfache Antworten und klare Leitplanken, an denen sie sich leicht orientieren und etwas Verantwortung abgeben können. „Menschen wenden sich dann häufig von der Wissenschaft ab, weil diese keine einfachen Antworten gibt (…)“ (Hartung & Sentker, 2017). Im Beratungsalltag begegnet uns dies häufig in Form eines großen Bedürfnisses nach einfachen Tools und Checklisten. Aber ein Blick in die Wissenschaft lohnt, auch wenn oder gerade weil die Wissenschaft hier passenderweise eher widersprüchliche Antworten liefert.

Da ist einerseits der bekannte US-amerikanische Entscheidungsforscher und Nobelpreisträger Daniel Kahneman. In seinem 2012 erschienenen Bestseller „Thinking, Fast and Slow“ rekapituliert Kahneman seine jahrzehntelange Forschung zum Thema Entscheidungsfindung. Kahneman (2012) unterscheidet zwei Entscheidungssysteme:

Das impulsiv, automatisch und intuitiv funktionierende System 1 und das analytisch, bewusst und rational operierende System 2, das uns deutlich mehr Anstrengung abverlangt.

System 1 ist laut Kahneman fehleranfälliger, verbraucht aber weniger Kapazitäten und schafft Überlebensvorteile, da es uns zu schnellem Urteilen und Handeln verhilft, indem es Dinge einfacher wahrnimmt, als sie eigentlich sind.
Unser Gehirn ist bequem, es hat insgesamt eher die Tendenz, System 1 zu nutzen und Dinge zu vereinfachen, d.h. zu bewerten, ohne ausreichend Informationen zur Verfügung zu haben. Dadurch kommt es häufig zu falschen Einschätzungen und Entscheidungen, so Kahneman (2012).

Welche Empfehlungen gibt Kahneman dem überforderten Entscheidungsträger? Nur wer schnelle Urteile des Gehirns, die häufig über die faule Abkürzung entstehen, kritisch überprüft, kommt zu guten Entscheidungen. Inwieweit diese Antwort dem Kaninchen hilft, bleibt dabei etwas offen. Schließlich scheint Schnelligkeit das Gebot der Stunde zu sein. Vertreter aus dem agilen Organisationsumfeld behaupten sogar, Intuition sei das relevante Versatzstück, um in einer sich permanent verändernden Organisationsumgebung handlungsfähig zu bleiben (Zeuch, 2017).

Einen zweiten wissenschaftlichen Blickwinkel findet sich bei Gerd Gigerenzer, einem renommierten deutschen Entscheidungsforscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Gigerenzer führt auch in seinem 2014 erschienenen Buch „Risiko – wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ (Gigerenzer, 2014), die Intuition aus der Welt der fehleranfälligen Esoterik zurück und verteidigt sie vehement. Bauchgefühl und intuitive Entscheidungen basieren häufig auf unbewusst ausgeführten Faustregeln, eine Form unbewusster Intelligenz, so Gigerenzer.

Gigerenzer kritisiert Kahnemans Forschung insbesondere hinsichtlich der fehlenden Kontextualisierung der Entscheidungssituationen. Denn insbesondere in komplexen Entscheidungssituationen fällt System 1 bessere Entscheidungen, so Gigerenzer. Das liegt unter anderem an den begrenzten Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses. Denn System 2 ist beschränkt durch das Arbeitsgedächtnis, das bei sehr komplexen Situationen teilweise nicht ausreicht, um alle relevanten Informationen zu verarbeiten.

Bauchentscheidungen seien also teilweise besser, selbst wenn wir sie nicht begründen können, so Gigerenzer. Gleichzeitig erlebten wir zuletzt am letzten Wochenende, dass weltweit tausende Menschen beim March for Science für die Bedeutung von Wissenschaftlichkeit und faktenbasierten Entscheidungen auf die Straße gingen (Welt, N24, 22.04.17). Bergen Bauchentscheidungen Einzelner doch die Gefahr der mangelnden Objektivität oder Vergleichbarkeit und bieten damit großartige Chancen für Machtmissbrauch und Manipulation.

Welche Schlüsse lassen sich nun daraus ziehen?

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