Charisma kann Top-Führungskräften (manchmal) egal sein

Im Rahmen des aktuellen VW-Skandals wird wieder deutlich, wie schnell hoch gepriesene Topmanager in Ansehen und Gunst von Öffentlichkeit und Mitarbeitern fallen können. Je höher das Ansehen, je positiver die Einschätzung der Führungsqualität, desto tiefer der Fall. Wovon aber hängt es ab, wie positiv eine Spitzenführungskraft beurteilt wird? Gerade wenn man davon ausgeht, dass durch große (hierarchische) Distanz keine vollständigen Informationen über das Verhalten der betreffenden Person bei den Urteilern vorliegen. Anhand welcher Kriterien also werden „Leader“ beurteilt, seien dies Führungspersonen eines Unternehmens, Vorstände einer Organisation oder gar Präsidenten eines Landes?

Eine aktuelle Forschungsarbeit von Jacquart und Antonakis (2015) beschäftigt sich mit eben dieser der Frage. Die Autoren beschreiben zwei (konkurrierende) Prozesse, mittels derer eine Führungskraft beurteilt werden kann. Einerseits gibt es einen attributionalen Prozess, in dem Führungskräfte am Erfolg ihres Unternehmens gemessen werden. Ist ein Unternehmen erfolgreich, wird dies der Führungskraft zugeschrieben und diese wird somit positiv – also als erfolgreich – beurteilt. Steht ein Unternehmen finanziell eher schlecht da, wird diese Information ebenfalls herangezogen und die Führungskraft wird als wenig erfolgreich beurteilt. Ähnliches gilt für Landesoberhäupter deren Qualität auf Basis der Wirtschaftsleistung des Landes beurteilt wird (z.B. Calder, 1977).

Andererseits gibt es den sogenannten Inferenzprozess, demnach eine Führungskraft durch das Vorhandensein bestimmter Merkmale einer idealen Führungskraft beurteilt wird. Personen bilden ihr Urteil auf Basis der Übereinstimmung einer Führungskraft mit der Vorstellung einer idealen prototypischen Führungskraft. Ein ganz wichtiges Merkmal stellt dabei nach wie vor Charisma dar, welches unter anderem durch effektives Image-Building und mit der Kommunikation einer Vision vermittelt wird. Dieser Ansatz geht also davon aus, dass eine Führungskraft anhand ihres Charismas positiv oder negativ beurteilt wird (z.B. Fiske, 1995).

Jacquart und Antonakis (2015) nehmen nun an, dass der Inferenzprozess greift, wenn der attributionale Prozess schwierig ist. Also dass der Grad, in dem Charisma für die Beurteilung herangezogen wird von der Klarheit und Spezifizität von den vorhandenen Infor- mationen über die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens abhängt. Sind klare Leistungs- kennzahlen eines Unternehmens vorhanden, seien diese positiv oder negativ, werden sie für die Beurteilung der Führungskraft verwendet. Sind diese Kennzahlen über die Leistung des Unternehmens unklar oder uneindeutig, werden für die Beurteilung Schlüsselqualitäten einer erfolgreichen Führungs- kraft, wie Charisma genutzt.

Die Forscher führten zwei Studien in den Kontexten Politik und Wirtschaft durch, um ihre Hypothese zu prüfen. Zunächst untersuchten sie retrospektiv amerikanische Präsidentschaftswahlen von 1916 bis 2008. Wie von den Autoren angenommen, wurden Präsidenten und ihre zugehörige Partei überzufällig häufig wiedergewählt, wenn die Leistung der amerikanischen Wirtschaft in ihrer Amtszeit klar positiv war. Sahen die ökonomischen Zahlen schlecht aus, wurden die Präsidentschaftskandidaten und ihre zugehörige Partei mit Abwahl bestraft. Waren die Leistungszahlen über den Stand der Wirtschaft mehrdeutig und damit nicht klar, gewann der Inferenzprozess an Bedeutung. Die Präsidentschaftskandidaten wurden anhand ihres Charismas beurteilt. Je charismatischer ein Kandidat, desto höher seine Chancen für eine (Wieder-)Wahl.

In ihrer zweiten Studie führten die Autoren ein Experiment durch, wobei es um die Wiederwahl eines CEOs ging. Sie gestalteten einen fiktiven Beitrag eines Wirtschaftsmagazins und variierten sowohl Informationen über das Charisma des CEOs, als auch Eindeutigkeit und Zugänglichkeit der Informationen bezüglich der Leistung des Unternehmens. Teilnehmer des Experimentes sahen eine der verschieden konstruierten Sendungen und beurteilten im Anschluss, ob sie den CEO des Unternehmens in seiner Funktion bestätigen würden. Auch in dieser Studie zeigte sich der vermutete Effekt: waren eindeutige Informationen über den Erfolg des Unternehmens zugänglich, waren diese positiv oder negativ, wurden ebendiese auch für die Beurteilung des CEOs herangezogen. Waren die Leistungskennzahlen unklar, wurde der CEO anhand seines Charismas bewertet.

In der Beurteilung von Führungskräften spielen tatsächlich beide Prozesse, also der Inferenz- und der Attributionsprozess eine Rolle. Wenn eindeutige Informationen über den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens oder Staates vorhanden sind, wird von dieser auf die Führungsqualität geschlossen. Herrscht dagegen Ambiguität, werden (zusätzlich) Schlüsselmerkmale einer idealen prototypischen Führungskraft zur Beurteilung herangezogen.

Solange das Unternehmen wirtschaftlich sehr erfolgreich ist, kann Topmanagern ihr Charisma also ziemlich egal sein. In schlechten Jahren tun sie eher gut daran, andere Ursachen als ihre Managementfähigkeit für den Unternehmenserfolg anzuführen. Bei uneindeutigen Ergebnissen empfehlen die Autoren dagegen, in den Aufbau des eigenen Charismas zu investieren. Schließlich sollten sich aber auch Beurteiler auf Basis der Studienergebnisse bewusst machen, welche Prozesse ihr eigenes Urteil prägen können und wann dieses ggf. vorschnell getroffen wird.

Quellen