Evidenzbasiertes Management bringt (nicht) wirklich etwas

Seit November 2012 veröffentlicht HRpepper monatlich die Publikation „Believe it or not“. In ihr gehen wir typischen Überzeugungen und Wertsätzen des (Personal-)Managements auf den Grund. Uns beschäftigt: Sind die vielfach unterstellten Zusammenhänge und Annahmen mit einer empirischen Evidenz belegbar? Anlässlich der 50. Ausgabe sprachen wir mit Prof. Dirk Sliwka von der Universität Köln. Er ist einer der führenden deutschsprachigen Forscher zum Evidenzbasierten Management.

Herr Prof. Sliwka, seit den letzten Jahren erfreut sich das Thema Evidenzbasiertes Management in der medialen Berichterstattung einer recht großen Beliebtheit. Welche Vorzüge hat das Konzept?

Prof. Dr. Sliwka: Während die derzeitige Praxis oftmals auf ungeprüfte Trends, einzelnen Erfolgsgeschichten und Management-Gurus vertraut, wird im evidenzbasierten Management die nüchterne Betrachtung von Fakten propagiert. Dazu werden in der ökonomischen Forschung Feldexperimente durchgeführt und in der psychologischen Forschung sehr stark sogenannte Meta-Analysen verwendet, um viele Studien zu einer Thematik zusammenzufassen und so robuste Aussagen über bestimmte Zusammenhänge treffen zu können. An die Stelle spekulativer Argumentationen und Annahmen tritt empirische Evidenz, „harte Fakten“. Nach meiner Einschätzung gibt es nämlich keinen Mangel an Ideen und Trends, die plausibel klingen. Sie müssen erst auf empirische Evidenz geprüft werden, um aus ihnen Handlungsempfehlungen ableiten zu dürfen. Letztendlich gilt: Nicht das Neue ist interessant, sondern das Richtige.

Kritisch kann gegen das Konzept eingewendet werden, dass selbst in Meta-Analysen gezeigte Zusammenhänge noch lange nicht in der spezifischen Organisation so anzutreffen sein müssen. Mindert das den Nutzwert der Idee?

Prof. Dr. Sliwka: Ja, das ist richtig. Organisationen sind komplexe sozio-ökonomische Systeme. Damit ist eine generalisierende Übertragung immer mit Vorsicht zu genießen. In Studien gezeigte Kausalitäten können auch in dem jeweiligen Unternehmen gelten, müssen sie aber nicht. Aus diesem Grunde ist es so wichtig „A-B Testing“ zu machen, d.h. Feldexperimente in Unternehmen. So lässt sich prüfen, ob die in der Literatur beschriebenen Zusammenhänge auch in der spezifischen Organisation gelten…

…das klingt aufwändig. Lassen sich darauf Firmen ein?

Prof. Dr. Sliwka: Diejenigen, die für sich den Nutzen der Methode erkannt haben, scheuen den Aufwand nicht. Er ist aber auch beherrschbar: man muss nur die Bereitschaft mitbringen, zu „randomisieren“: Zufällig werden Probanden in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe bekommt das zu evaluierende Instrument, die andere nicht. Anschließend wird verglichen, wo die Performance besser war. Auch Manager sollten viel häufiger Experimente wagen als sie es derzeit tun. Bevor ein Trainingsprogramm unternehmensweit ausgerollt wird, lohnt es sich dies an einer Testgruppe durchzuführen. Sind zum Beispiel Umsatzdaten oder Leistungsbeurteilungen aus der Testgruppe und einer Kontrollgruppe vorhanden, so kann sogar der ökonomische Gewinn, der aus dem Training entsteht, erstaunlich gut abgeschätzt und so geprüft werden, ob es sich lohnt, das Training breit zu nutzen.

Unser Aufsichtsratsvorsitzender Prof. Rüdiger Kabst formulierte vor einiger Zeit provokant „Nur 1 % der Praktiker lesen wissenschaftliche Publikationen“. Wie verbreitet sind die Befunde in der Praxis, die die Wissenschaft hervorbringt?

Prof. Dr. Sliwka: Das hängt nach meiner Einschätzung sehr davon ab, welche Ausbildung die Manager genossen haben und wie wissenschaftsaffin diese sind. Trotzdem ist es richtig, dass nur Wenige die Texte der Grundlagenforschung lesen. Da haben wir auch als Wissenschaftler unseren Anteil dran, weil wir häufig sehr isolierte Fragestellungen bearbeiten und die Lektüre nicht immer großen Lesespaß vermittelt. Es braucht daher schon Übersetzter wie bspw. die Zeitschrift „Personal quarterly“ oder „Believe it or not“ von HRpepper.

Was ist aus Ihrer Sicht die Ursache dafür, dass das Thema Evidenz in der Praxis eine höhere Beachtung erfährt?

Prof. Dr. Sliwka: Das hat nicht nur mit den gerade erwähnten Übersetzern zu tun sondern auch mit dem grundsätzlichen Wandel der Betriebswirtschaftslehre. Die BWL ist heute im stärkeren Maße eine empirische, verhaltensorientierte Wissenschaft, als sie es in der Vergangenheit war. Daher können immer mehr Führungskräfte mit den Konzepten etwas anfangen, die die Basis für evidenzbasiertes Management bilden. Und dass die Frage nach der Wirkung einer Maßnahme für Manager von Interesse ist, daran hat sich nichts geändert. Die Forschung hat mittlerweile auch einfach besser gelernt, wie man klar kausale Effekte aufdeckt und daher an Relevanz gewonnen. Wir merken, dass es deutlich einfacher geworden ist, Unternehmen zu überzeugen, dass Forschung und Praxis gewinnen, wenn wir gemeinsam z.B. ein Feldexperiment angehen. Und es hilft auch, dass in den Silicon Valley Unternehmen das A-B Testing zum Alltagsgeschäft gehört – und damit auch in der Wahrnehmung der Praktiker aus dem akademischen Elfenbeinturm rauskommt.

Im Zusammenhang mit den großen Herausforderungen der Zukunft überbieten sich im Moment viele „Experten“ mit immer wieder neuen und radikaleren Vorschlägen. Bei allen berechtigten Forderungen, scheint die Diskussion eine normative Richtung einzunehmen. Etwas polemisch zugespitzt: Nur wer bereit ist, sich als Manager wählen zu lassen, Hierarchiefreiheit predigt, Holacracy implementiert und auch sonst ganz agil ist, der ist eine „moderne“ Führungskraft. Finden Sie in Ihren Arbeiten eine empirische Evidenz für diese behaupteten Zusammenhänge?

Prof. Dr. Sliwka: Ich komme auf den Anfang unseres Gesprächs zurück. Im Konzept des Evidenzbasierten Managements ist nicht das Neue interessant, sondern das Richtige. Auch wenn viele der neuen Angänge eine Alltagsplausibilität zeigen, müssen wir dringend die Wirkungen empirisch zeigen, sonst bleibt es bei reinem Bauchgefühl – und wir wissen eben auch, dass unser Bauchgefühl gewissen „biases“ unterliegt und uns daher trügen kann. Das bspw. Partizipation grundsätzlich mit positiven Engagementwerten einhergehen, ist nichts Neues. Ob dazu eine Führungskraft gewählt werden muss oder ob auf Führung ganz verzichtet werden sollte und nur noch Rolleninhaber agieren steht auf einem anderen Blatt. Ich bin sehr gespannt, in welche Richtung die weitere Entwicklung geht. Für mich tun sich auch erhebliche logische Brüche auf: Damit Organisationen schneller auf ihrer Umwelt agieren können müssen sie agiler werden. Gekauft. Ob eine stärkere Demokratisierung dem dienlich ist oder aber durch mehr Abstimmungsbedarfe genau diese Agilität genommen wird würde ich gerne einmal in einer sauberen Studie belegt sehen wollen.

Lieber Herr Prof. Sliwka, ich danke für dieses Gespräch.

Das Interview führte Dr. Matthias Meifert mit Prof. Dirk Sliwka am 4. November 2016.