HR-Abteilungen beeinflussen die Beidhändigkeit von Organisationen (nur bedingt)

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Ambidextrie nimmt auf der Liste erstrebenswerter Tugenden erfolgreicher Organisationen seit einigen Jahren einen prominenten Platz ein. Auch HR-Bereiche sehen sich in der Bringschuld, gleichzeitig effizient und innovativ zu sein – und dabei auch noch die Beidhändigkeit der Gesamtorganisation zu unterstützen. Aber wie viel Einfluss hat HR diesbezüglich wirklich?

Von Arne Reis

Der Begriff der organisationalen Beidhändigkeit – oder Ambidextrie – ist seit einiger Zeit in aller Munde. Gemeint ist damit die Fähigkeit von Organisationen, effizient bestehende Marktopportunitäten auszuschöpfen (exploitation) und sich gleichzeitig durch Innovation für zukünftige Herausforderungen gut aufzustellen (exploration; Patel, Messersmith & Lepak, 2013). Schon vor 15 Jahren zeigte die Forschung, dass beidhändig aufgestellte Unternehmen signifikant mehr disruptive Innovationen produzieren als klassisch aufgestellte (O’Reilly & Tushman, 2004). Auch so mancher Personalstratege versucht seiner Abteilung durch den Aufbau von HR Innovation Units mehr Beidhändigkeit einzuhauchen. Aber sind solche Bestrebungen für das Gesamtunternehmen überhaupt relevant? Oder anders gefragt: Hat Personalarbeit einen Einfluss auf die Ambidextrie ganzer Organisationen?

Das Konzept der organisationalen Ambidextrie wird seit der Veröffentlichung eines bahnbrechenden Aufsatzes des Stanford-Professors James Gardner March (1991) an vielen Universitäten der Welt beforscht. Dabei wird zwischen struktureller und kontextueller Ambidextrie unterschieden. Zunächst ging die Wissenschaft davon aus, dass maximale Effizienz und radikale Innovation nur dann gemeinsam unter das Dach einer Organisation passen, wenn sie strukturell, also in verschiedenen Geschäftseinheiten oder Funktionsbereichen, voneinander getrennt seien (Tushman & O’Reilly, 1996). Später entwickelte sich die Überzeugung, dass Führungskräfte und Mitarbeitende je nach Aufgabenkontext befähigt werden sollten, entweder exploitation oder exploration in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen (Gibson & Birkinshaw, 2004).

Positive Spannung zwischen Effizienz und Innovation

Ein Kernelement kontextueller Ambidextrie ist der sogenannte stretch, also die „positive Spannung“ zwischen Effizienz und Innovation innerhalb einer organisationalen Einheit (Gibson & Birkinshaw, 2004). Diese Spannung entsteht vor allem dann, wenn die Leistungsziele von Mitarbeitenden anspruchsvoller werden, da die Mitarbeitenden in dieser Situation ihr Kerngeschäft noch effizienter abwickeln und gleichzeitig neue Lösungsansätze entwickeln müssen. Hier kommt HR ins Spiel.

Eine Studie aus dem Jahr 2015 untersuchte anhand eines Datensatzes von gut 130 Angestellten einer israelischen Bank, wie verschiedene Performance Management-Bausteine das Verhalten der Mitarbeitenden beeinflussen. Ergebnis: Hochqualifizierte Organisationsmitglieder empfanden einen stärkeren stretch und wiesen eine signifikant höhere Zielerreichung auf, wenn ihnen ex post leistungsbasierte Boni gezahlt wurden. Für weniger qualifizierte Mitarbeitende ließ sich dieser Bezug hingegen nicht zeigen – ihre Leistung wurde auch bei der Aussicht auf Bonuszahlungen nicht besser (Ahammad, Lee, Malul & Shoham, 2015).

Eine spanische Studie aus demselben Jahr beschäftigte sich mit der Frage, welche Auswirkungen HR-Produkte auf die Beidhändigkeit von Mitarbeitenden und Organisationen haben. Grundlage waren hier die Daten von ca. 200 Unternehmen aus diversen Sektoren. Die Forscher ermittelten, dass Mitarbeitende aller Funktionen sich deutlich „beidhändiger“ und damit anpassungsfähiger in Bezug auf neue Marktanforderungen verhielten, wenn die Personalbereiche in ihren Unternehmen leistungsstarke HR-Produkte anboten (Prieto-Pastor & Martin-Perez, 2015). Als besonders wirkungsvoll erwiesen sich hierbei regelmäßige individuelle Feedback-Gespräche mit Führungskräften, fortwährende interne Lernangebote und abermals an individuelle oder Unternehmensergebnisse gebundene Bonuszahlungen.

Bestmöglich an die Umweltbedingungen anpassen

Aufbauend auf diesen Ergebnissen setzt eine neuere Untersuchung aus diesem Jahr bereits voraus, dass Personalarbeit die Ambidextrie ganzer Organisationen beeinflussen kann. Hansen, Güttel und Swart stellen die Frage, wie HR-Abteilungen diesen Einfluss besonders wirksam ausgestalten können. Sie kommen in ihrer theoretischen Studie zu einer zentralen Erkenntnis: HR-Architekturen sollten bestmöglich an die Umweltbedingungen angepasst sein, in denen die jeweilige Gesamtorganisation agiert. So funktionierten Recruiting und Personalentwicklung in „Hochgeschwindigkeitsumgebungen“ (zum Beispiel Biotechnologie) vollkommen anders als in „Umgebungen mit moderater Dynamik“ (zum Beispiel öffentlicher Sektor und Einzelhandel) (Hansen, Güttel & Swart, 2019).

Was bedeuten diese Forschungsergebnisse für die Praxis? Zunächst einmal zeigen sie: Personalabteilungen können beim „Beidhändigkeits-Training“ von Organisationen wichtige Unterstützung leisten. Als enabling function stellt HR im Idealfall einen Rahmen bereit, der Menschen motiviert, befähigt und incentiviert, Ambidextrie zu leben.

Ein Rahmen aus gut aufeinander abgestimmten HR-Produkten ist hierfür jedoch höchstens die notwendige Bedingung. Er kann steuern, wie Mitarbeitende ihre Zeit und Aufmerksamkeit zwischen Effizienz- und Innovationsstreben verteilen (Gibson & Birkinshaw, 2004). Viele weitere Faktoren tragen allerdings ebenfalls dazu bei, wie viel Beidhändigkeit am Ende sichtbar wird, zum Beispiel das Verhalten der direkten Führungskraft (Prieto-Pastor & Martin-Perez, 2015) und die Qualifikation der Mitarbeitenden selbst (Ahammad, Lee, Malul & Shoham, 2015).

Personalexpertinnen sollten sich nicht nur fragen, wie viel Ambidextrie sie von den Menschen in ihrer Organisation realistischerweise erwarten können, sondern auch, wie viel sie vorleben wollen. Eine strukturell ambidextre HR-Organisation, in der administratives Tagesgeschäft und innovationsorientierte Sonderprojekte klar voneinander getrennt bearbeitet werden, ist im ersten Schritt oftmals leichter umzusetzen.

Eine kontextuell ambidextre HR-Organisation stellt hingegen höhere Anforderungen an die Flexibilität einzelner Personen und Teams, nach dem Motto: „Am besten können alle alles“. Wenn sich Führungskräfte und Teams für diese fortgeschrittene Variante einer HR-Architektur entscheiden, setzt dies eine ausgeprägte Fehlerkultur voraus. Schließlich kann die Toleranz für Fehler in ein und demselben Team je nach Aufgabe stark variieren (Hansen, Güttel & Swart, 2019).

Quellen: