Neurowissenschaften können (nicht) alles erklären

Der Aufstieg der Neurowissenschaften zur alles-erklärenden Königsdisziplin scheint ungebrochen. Man kann den Eindruck gewinnen, wir sind unser Gehirn. Farbige Bilder des feuernden Netzwerks im Oberstübchen werden zur Erklärung für fast alle menschlichen Verhaltensweisen, Eigenschaften oder Handlungen angeführt. Folgerichtig haben Themen wie Neuro-Leadership, Neuro-Marketing, Neuro-Sales, etc. gerade Hochkonjunktur. Doch ist dieser Fokus auf die rund 86 Milliarden Neuronen im Gehirn nicht zu eng, um die Komplexität des ICH abzubilden (vgl. www.dasgehirn.info)?

Was wäre, wenn ausgerechnet unser Verdauungstrakt bei diesem Thema sehr viel mehr mitzureden hat, als bisher angenommen? „Du bist, was du isst“ – vielleicht steckt in dieser Redewendung eine große Wahrheit (vgl. Enders, 2014). Eine ebenso gewagte wie spannende Vermutung ist, dass Persönlichkeitseigenschaften nicht ausschließlich im Gehirn verankert sind, sondern maßgeblich von kleinen, gemeinhin nicht als salonfähig geltenden Bewohnern unseres Körpers beeinflusst werden: Den Darmbakterien.

So konnten irische Wissenschaftler zum Beispiel feststellen, dass Mäuse, die mit einem darmfreundlichen Bakterium (Latrobazillus rhamnosus JB-1) gefüttert wurden, deutlich mehr Durchhaltevermögen bewiesen, als solche, denen diese Nahrungsergänzung vorenthalten wurde (Bravo et al., 2011). Zu noch erstaunlicheren Ergebnissen kamen Bercik et al. (2011) als sie die Darmbakterien von zwei verschiedenen Mäusestämmen austauschten: Mäuse, des einen Stamms, die eher draufgängerisch waren und nun die Bakterien des anderen, eher ängstlichen Stamms in sich trugen, zeigten auf einmal ebenfalls ängstlicheres Verhalten und umgekehrt.

Von Mäusestudien auf uns Menschen zu schließen, ist natürlich sehr gewagt. Den bisher vielleicht vielversprechendsten Hinweis, dass dieser Schluss zulässig sein könnte, erbrachten Tillisch et al. 2013. Sie konnten zeigen, dass Studienteilnehmerinnen, die zuvor vier Wochen lang regelmäßig Probiotika eingenommen hatten, weniger stark auf negative emotionale Reize reagierten, als die Versuchspersonen der Kontrollgruppe.

Auch die Forschung zum Zusammenhang zwischen chronischen Darmkrankheiten und psychischen Störungen härtet die Vermutungen über eine tragende Rolle des Darms zum Beispiel bei der Entstehung von Emotionen (vgl. Graff et al. 2009; Tache & Bernstein, 2009).

Trotzdem bleiben eindeutige Zusammenhänge, die Festlegung einer Wirkrichtung oder mögliche Beeinflussung von Emotionen und Kognitionen über eine Veränderung der Darmflora zum aktuellen Zeitpunkt noch spekulativ und sollten mit Vorsicht genossen werden.

Die Forschungen zum „Darmhirn“ stehen noch am Anfang. Es zeichnet sich aber immer deutlicher ab, dass hier ein Forschungsgebiet wächst, das unsere stark kopflastige Wahrnehmung des Menschen infrage stellt. Hieraus können sich völlig neue Erklärungsansätze und Einflussmöglichkeiten ergeben. Wer weiß, vielleicht werden wir in Kürze keine Neuroleadership-Seminare sondern Workshops zum Microbacterial Managing am Markt finden?

In welche Richtung sich dieses vielversprechende Gebiet auch immer entwickelt – bereits heute können wir die (alte) Erkenntnis daraus ziehen, dass die Wirklichkeit komplex und vernetzt ist. Erst aus Bauch und Gehirn, aus Intuition und Verstand, aus westlichen und östlichen Erklärungsansätzen entsteht ein sinnvolles Ganzes.

Quellen