Selbstorganisation ist (k)ein Selbstläufer

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Auf der Suche nach Antworten auf dynamische Marktbedingungen und steigende Erwartungen der Mitarbeitenden an ihr Arbeitsumfeld, rückte das Thema Selbstorganisation in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus von Organisationsforschern und Personalverantwortlichen. Entgegen verstaubten Management-Hierarchien versprechen sich Unternehmen durch Selbstorganisation ein auf den ersten Blick simples Allheilmittel, um Mitarbeitenden mehr Erfüllung in ihrer Arbeit zu ermöglichen. Schließlich hält sich dadurch auch der übergreifende Organisationsaufwand in Grenzen – oder? Von Lara Groetelaers

Aufmerksame Beobachter:innen konnten in den vergangenen Jahren das Aufkeimen verschiedenster Selbstorganisations-Ansätze, etwa der Holokratie, mitverfolgen. Spätestens die Pandemie fungierte als Booster für verstärkte Bemühungen in diese Richtung. So gaben in einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO und der Deutschen Gesellschaft für Personalforschung (DGFP) 51,5 % der Befragten an, dass die meisten Beschäftigten in ihrer Organisation in den kommenden drei Jahren Entscheidungen selbstorganisiert treffen werden (Hofmann, J., Piele, A. & Piele, C., 2021).

Selbstorganisation – was ist das überhaupt?

Auf den ersten Blick richtet sich die Selbstorganisation primär gegen die Hierarchie als Organisationsform – ein Überbleibsel des industriellen Zeitalters. Das hatte seine Berechtigung lange Zeit durch die Möglichkeit zur Bewältigung von Komplexität und seinen struktur- und orientierungsgebenden Charakter. Heute wird dieses Gedankengut eher als Hemmnis für Reaktionsgeschwindigkeit und Verantwortungsdenken im Unternehmen gesehen (Petermann, Schreyögg & Fürstenau, 2019; Lee & Edmondson, 2017). Dabei ist die Selbstorganisation als Modell selbst weit davon entfernt, ein klar definiertes Konstrukt zu sein. Während einige Ansätze besonders auf individuelle Mitbestimmung abzielen, steht bei anderen eher die Notwendigkeit zur Vernetzung im Vordergrund. Trotz unterschiedlicher Ausgestaltung zielen jedoch alle Ansätze maßgeblich auf die eigenverantwortliche Steuerung der Mitarbeitenden ab – mit der Intention, Themen wie Verantwortung und die Koordination von Aufgaben neu zu verteilen. Prägend ist damit vor allem die Dezentralisierung von Autorität und das autonome Treffen von Entscheidungen (Lee & Edmondson, 2017; Balogun & Johnson, 2004; Manz, 1986).

Herausforderungen auf individueller und organisationaler Ebene

Wer jedoch denkt, dass dies durch das Abschaffen von Hierarchieebenen einfach getan wäre, hat weit gefehlt. Untersuchungen zeigen, dass die Realität der Selbstorganisation weitaus komplizierter ist und viele Herausforderungen mit sich bringt. Verteilte Macht und Verantwortung kann mit der Zeit zu Stress unter Mitarbeitenden führen: Literatur über selbstgesteuerte Organisationen deutet darauf hin, dass sich Menschen in unterschiedlichem Maße in dezentralisierten Organisationssystemen wohlfühlen. Unabdingbar ist es also, zu verstehen, wie die Mitarbeitenden individuell auf Eigenverantwortung und verteilte Autorität reagieren, um geeignete Maßnahmen für das Auffangen von Ängsten und Unsicherheiten zu ergreifen. Selbstorganisation erfordert ein höheres Maß an psychologischer Entwicklung und zwischenmenschlicher Kompetenz. Sie braucht insbesondere die Befähigung der Mitarbeitenden, neue Konzepte von Autorität zu leben (Lee & Edmondson, 2017).

Die übergreifenden Herausforderungen, die sich aus einer signifikanten Machtverschiebung in Organisationen ergeben, sind ebenso wenig trivial. Grundsätzlich besteht die Gefahr des Fortbestehens von informellen und formellen Hierarchien auch in selbstorganisierten Umgebungen, die auf lange Sicht die formale Struktur untergraben. Diese zeigen sich häufig, wenn Unsicherheiten über Verantwortung, Entscheidungsbefugnisse oder ein Machtvakuum durch unzureichende Klärung von Autorität entsteht.

Wie Selbstorganisation in der Praxis gelingen kann

Laut Lee & Edmondson (2017) ist daher vor allem das Festlegen von klaren, expliziten Regeln und Prinzipien essenziell, unter anderem für das Verteilen von Befugnissen und dezentralen Koordinationsmechanismen. Das benötigte formelle System kann zum Beispiel eine gemeinsam entwickelte Verfassung oder ein Mitarbeitenden-Handbuch sein. Die Management-Beratung HRpepper führte bereits vor einigen Jahren ein an Selbstorganisation angelehntes Organisationsmodell ein. Auch hier ist die Autorität verteilt. Die Mitarbeitenden steuern sich weitestgehend selbst. Sie sind maßgeblich für ihre eigene Arbeitsgestaltung verantwortlich. Voraussetzung dafür sind bei HRpepper verschiedene Mechanismen zur Unterstützung – unter anderem durch Level-interne Steuerungsrunden zur Aufgabenverteilung. Das ist tatsächlich nicht immer einfach. Selbstorganisation verlangt von den Mitarbeitenden ein hohes Maß an Disziplin, Routinen und das Wissen um die Relevanz einer kontinuierlichen Reflexion für Lernprozesse der Organisation. Sie verlangt zudem die Furchtlosigkeit, sich immer wieder gemeinsam mit aufkommenden organisatorischen Herausforderungen differenziert auseinanderzusetzen.
HRpepper feiert in diesem Jahr sein 10-jähriges Bestehen – und es sieht so aus, als ob mithilfe der gelebten Organisationsstruktur noch einige Jahre dazukommen werden. Ob dies für andere Unternehmen ebenfalls eine Erfolgsgeschichte prägen kann, sollten sie für sich selbst reflektieren. Für Unternehmen, die dazu bereit sind, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, öffnen sich jedoch die Türen zu einer erfolgreichen Form des selbstbestimmten Arbeitens.

Quellen