Warum die Führung virtueller Teams (k)ein neues Rollenverständnis erfordert

BION_10.2017

Digitalisierung im Arbeitsalltag – die virtuelle Zusammenarbeit in Teams hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Von „virtuellen Teams“ wird gesprochen, wenn die Mitarbeiter einen reduzierten persönlichen Kontakt haben, über eine größere Distanz zusammen-arbeiten und sich elektronisch verständigen. In immer mehr Unternehmen existiert diese virtuelle Art der Zusammenarbeit, denn sie kann die Flexibilität erhöhen sowie Kosten- und Zeitressourcen sparen. Dem gegenüber ernüchternde Zahlen: Viele virtuelle Teams scheitern und das trotz oder gerade wegen ihrer Führung. Damit stellt sich die zentrale Frage, wie Leadership im digitalen Zeitalter funktioniert. Was braucht es, um das virtuelle Team der Zukunft zu führen?

Virtuell zusammenarbeitende Teams werden immer stärker zur Normalität in Unternehmen: Laut einer aktuellen Siemens-Studie arbeiten mittlerweile knapp 80 Prozent regelmäßig in virtuellen Teams, jedoch finden dies nur 44 Prozent genauso produktiv wie den persönlichen Kontakt.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine aktuelle Trendstudie des Marktforschungsunternehmens PAC mit dem Titel „Zusammenarbeit virtueller Teams in deutschen Unternehmen“, in der 152 Führungskräfte befragt wurden: Dass virtuelle Zusammenarbeit immer wichtiger für den Geschäftserfolg wird, bestätigten 70 Prozent der Befragten. Gleichzeitig berichten 30 bis 50 Prozent der befragten Führungskräfte von negativen Folgen für die Produktivität. Eine Studie der Rochus Mummert Consulting Group belegt, dass drei von vier virtuellen Teams scheitern.

Die Hauptursachen hierfür sind laut genannter Studien Folgende: Häufig fehlen gemeinsame Regeln, welche sich in Präsenzteams meist im Zusammenspiel vor Ort bilden. Auch mit Konflikten ist in virtuellen Teams schwieriger umzugehen, da diese aufgrund der räumlichen Distanz meist erst dann erkannt werden, wenn es zu spät ist und einzelne Teammitglieder die Arbeit einstellen oder das Team verlassen. Entscheidender Grund für das Scheitern – und da besteht Konsens hinsichtlich aktueller Studienergebnisse – ist jedoch die Tatsache, dass virtuelle Teams wie Präsenzteams geführt werden, für die jedoch die aufgeführten Herausforderungen nicht gelten. Erfordert die virtuelle Führung ein neues Rollenverständnis?

Mit dieser Frage beschäftigte sich ein Wissenschaftlerteam rund um Diplompsychologin Julia Hoch an der California State University. Es befragte 565 Mitarbeiter aus 101 Forschungs- und Entwicklungsteams internationaler Fertigungsunternehmen. Teams waren ihrer Definition nach virtuell, wenn die Mitarbeiter in verschiedenen Ländern arbeiteten und sich elektronisch verständigten. Als Kontrollgruppen fungierten lokal arbeitende Teams. Die Forscherinnen prüften, inwiefern drei Arten von Führung die Leistung virtueller Teams beeinflussten: 1. Klassische Führung (hier versuchten die Chefs, ihre Mitarbeiter zu motivieren oder eine vertrauensvolle Beziehung über eine sinnstiftende Kommunikation zu ihnen aufzubauen), 2. Strukturelle Führung (hier machten die Chefs klar, welche Belohnung bei welcher Leistung zu erwarten war; außerdem mailten und sprachen sie verständlich), 3. Geteilte Führung (hierbei lag die Verantwortung auf mehreren Schultern; viele im Team konnten mitentscheiden).

Die überraschenden Ergebnisse der Studie zeigten, dass virtuelle Teams nicht von motivierender und einfühlsamer Führung profitierten. Vielmehr waren sie – gemessen an Arbeitsmenge, Arbeitsqualität, Zeitplan und Budgetvorgaben – besser, wenn der Chef klare Ansagen machte und präzise informierte. In den nicht-virtuellen Teams verhielt es sich in Bezug auf den Führungsstil genau umgekehrt. Geteilte Führung wirkte sich in allen Teams (virtuell und nicht-virtuell) positiv auf die Produktivität aus.

Welche Schlüsse lassen sich aus den Ergebnissen ziehen? Erfordert die effektive Steuerung virtueller Teams ein neues Führungsverständnis – weg vom Führen über Sinn hin zu einer klaren Aufgabenvermittlung, die auf viele Schultern verteilt wird? Geht es mehr um konkrete Ansagen und ein transparentes Erwartungs- und Belohnungsprinzip als um motivierende Worte und eine gemeinsame Vision?

Eine wichtige Erkenntnis für den Arbeitsalltag als Antwort vorneweg: Die klassische und in Präsenzteams erfolgreiche Führung über motivierende Worte und Sinnvermittlung scheitert in virtuellen Teams. Hier helfen vielmehr eindeutig zu verstehende Ansagen, transaktionale Führungsaktivitäten wie bspw. kontinuierliche und häufige Interaktionen, rechtzeitige, regelmäßige und klare Informationsweitergaben, konstantes Feedback und das konsequente Nachkommen von Verpflichtungen – mehr als es in nicht-virtuellen Teams notwendig ist.

Die zweite wichtige Erkenntnis der Studie sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden: Auch virtuelle Teams arbeiten produktiver bei „geteilter Führung“. Setzt man diese beiden Erkenntnisse zueinander in Bezug bedeutet dies, dass virtuelle Führungskräfte eine klare Struktur geben sollen, aber auch Führung abgeben und als Teil des Teams, d.h. als sogenannter „Primus inter Pares“ agieren sollten.

Um diese „geteilte Führung“ realisieren zu können, ist es entscheidend, Teams nach Kompetenzen zusammenzustellen und zu entwickeln. Zu diesen Ergebnissen kamen auch die Forscher A. Albrecht & E. Albrecht-Goepfert in ihrer Studie „Virtuelle Teams“ (2012). Sie untersuchten 324 Teams und interviewten die Beteiligten. Zu wichtigen Kompetenzen produktiver virtueller Teams gehören, ihren Ergebnissen nach zu urteilen, nicht nur Fachkenntnisse, sondern auch überfachliche Skills. Denn bei der virtuellen Zusammenarbeit ist die Kommunikation häufig nur auf Telefon, Videokonferenz, Mails oder Chats beschränkt. Mitarbeitern mit ausgeprägten kommunikativen und sozialen Kompetenzen gelingt diese Form der Kommunikation besser (vgl. auch BION 09/2017).

Bedeutet zusammengefasst: Produktiv arbeitende Teams entstehen nur dann, wenn es den Führungskräften gelingt, in gleichem Maße Orientierung zu bieten sowie Führung (über klare Rollen und Verantwortlichkeiten) abzugeben und die Teammitglieder dabei in ihren überfachlichen Kompetenzen zu entwickeln. Die erfolgreiche Führungskraft von morgen nimmt somit die Rolle des „Strukturgebers“ sowie des „Primus inter Pares“ im Sinne einer coachenden Funktion ein.

Lässt sich nur hoffen, dass Unternehmen den Führungskräften auch die erforderliche Zeit einräumen, ein virtuelles Team entsprechend zusammenzustellen und zu entwickeln.
Sollten diese Rahmenfaktoren vorhanden sein und Führungskräfte ihre neuen Rollen annehmen, träfe womöglich das Zitat der deutschen Autorin Annette Andersen auch auf virtuelle Teams zu: „Oft bringt erst Distanz Menschen einander näher!“

Quellen: