Warum Veränderungen der Unternehmenskultur die große Kündigungswelle (nicht) verhindern werden

202203

Die “Great Resignation” rollt über den globalen Arbeitsmarkt und macht auch vor Deutschland nicht halt. Studien legen nahe, dass der wichtigste Einflussfaktor auf diese Kündigungswelle die Unternehmenskultur ist. Alles Unsinn – oder bieten die Ergebnisse tatsächlich einen Ansatz, um Unternehmen vor dem Tsunami zu bewahren?

Von Ruben Grasemann

Im Mai 2021 prophezeite der amerikanische Universitätsprofessor Dr. Anthony Klotz die “Great Resignation”. Damit prägte der Betriebswirt den Begriff für den ökonomischen Trend massenhaft freiwilliger Kündigungen, der noch immer andauert. (1, 2) Laut einer aktuellen Studie von XING und Forsa denken auch in Deutschland 37 Prozent der Beschäftigten darüber nach, zu kündigen – 12 Prozent mehr als im Vorjahr (XING, 2022). Schon jetzt verlässt jede:r Vierte den Betrieb, ohne eine neue Stelle zu haben. Aktuelle Studien verdeutlichen: Die Unternehmenskultur ist einer der stärksten Einflussfaktoren auf die Kündigungswelle. (4) Könnten Veränderungen in der Unternehmenskultur also den Big Quit verhindern?

Die große Resignation

Die Vorhersage der Great Resignation fußt auf unterschiedlichen Annahmen: Zum einen hatten viele Menschen, die bereits kündigen wollten, dies aufgrund des unsicheren Arbeitsmarktes zu Beginn der Pandemie noch nicht getan. Zum anderen häuften sich berufsbedingte Burn-out-Belastungen. Nicht zuletzt gab es außerdem erste belastbare Daten aus der Servicebranche, die ein solches Phänomen vorhersagten. (5) Darüber hinaus „stelle die Konfrontation mit Krankheit und Tod Menschen vor existenzielle Fragen, wie beispielsweise die des Sinnerlebens und wie dieses zur derzeitigen Beschäftigung passe“, so Anthony Klotz.

Kultur sticht Vergütung. Gestern, heute und morgen

Um die Gründe für die Great Resignation besser zu verstehen, untersuchten Sull, Sull und Zweig (2022) 34 Millionen Online-Profile von amerikanischen Arbeitnehmern, die zwischen April und September 2021 ihr Unternehmen verließen. Obwohl es in der Anzahl der Fluktuation bei Unternehmen Branchenunterschiede gibt, ist bemerkenswert, dass Blue- und White-Collar Angestellte gleichermaßen betroffen sind. (4) So ist beispielsweise die Fluktuation im Bekleidungshandel mit 19 Prozent die höchste, dicht gefolgt von der Fluktuation in der Unternehmensberatung (16 Prozent). Eine unterdurchschnittliche Fluktuation lässt sich in Unternehmen beobachten, die für ihre gesunde Unternehmenskultur bekannt sind. Während innovative Unternehmen wie SpaceX, Tesla und Nvidia höhere Kündigungsraten verzeichnen als ihre weniger umtriebigen Konkurrenten, wie Boeing, Ford und Intel.

Die Forscher:innen untersuchten anschließend 1,4 Millionen Unternehmensbewertungen des Online-Portals Glassdoor, um zu analysieren, welche Themen ehemalige Mitarbeitende am meisten bewegen. Sie kamen zu dem Schluss, dass das Gehaltsthema – das oft im Fokus der Berichterstattung um die Great Resignation steht – für die Vorhersage der Fluktuationsquote eines Unternehmens lediglich an sechzehnter Stelle steht. Andere Faktoren sind deutlich relevanter. So ist die Anerkennung der Leistung der Mitarbeitenden beispielsweise 2,9-Mal wichtiger als die Vergütung. Unternehmen also, die besondere Leistungen übersehen, laufen Gefahr, ihre High-Performer zu verlieren. Erstaunlicherweise ist auch die „hohe Innovationskraft“ ein wesentlicher Prädiktor für die Kündigungswelle (3,2-Mal wichtiger als Vergütung). Stetig an neusten Technologien zu arbeiten, mag aufregend und befriedigend sein, kostet aber auf lange Sicht auch Durchhaltevermögen in puncto Überstunden, Geschwindigkeit und Stress. Der bei Weitem stärkste Prädiktor zur Vorhersage der Fluktuation eines Unternehmens im Branchenvergleich ist jedoch die „toxische Unternehmenskultur“, deren Merkmale u. a. eine schlechte oder fehlende Kommunikation, nicht eingehaltene Vereinbarungen oder kaum Zeit für Erholungsphasen sind: Mit einer 10,4-Mal stärkeren Vorhersagekraft als das Thema „Gehalt“ steht die Kultur an erster Stelle.

Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit weiteren Studien, die bereits kurz vor der Corona-Pandemie die Unternehmenskultur sowohl als wichtigsten Prädiktor für Jobzufriedenheit als auch als einen der wichtigsten Gründe identifizierten, beim derzeitigen Unternehmen bleiben zu wollen. (6, 7) Bereits eine im Jahr 2021 von dem Softwareentwickler Personio in Auftrag gegebene Befragung von 2.002 Arbeitnehmern und 500 HR-Entscheidungsträgern kommt zu folgendem Ergebnis: Für 21 Prozent der befragten Mitarbeitenden ist eine toxische Unternehmenskultur wesentlicher Antreiber von Kündigungen während der Corona-Pandemie. Die Unternehmen selbst hingegen stufen diesen Faktor als eher gering ein (12 %) und denken, dass Themen wie Beurlaubungen und reduzierte Benefits ausschlaggebend sind. (8) Die Autor:innen der Studie beklagen die besorgniserregende Dissonanz zwischen der Wahrnehmung von Kündigungsgründen seitens der Unternehmen und der Erlebnisrealität der Beschäftigten. Sie fordern ein besseres Verständnis der Mitarbeitenden-Perspektive und rufen dazu auf, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.

Die große Reflexion

Eine ungesunde Unternehmenskultur kann nicht über Nacht verändert werden. Und so empfehlen einige Forscher und Berater derzeit über laterale Karrierechancen zu sprechen, gute Home-Office-Regelungen zu implementieren und vorhersehbare Dienstpläne zu erstellen, um kurzfristig auf einige der wichtigsten Prädiktoren für die Kündigungswelle Einfluss zu nehmen. Gute Ideen. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass den Kampf um die besten Talente auf längere Sicht nur gewinnt, wer die Kulturelemente, die Mitarbeitende zum Kündigen bewegen, versteht und angeht. Jetzt ist die Zeit gekommen, um die große Reflexion einzuleiten: Soziale Events, seien es ein Teambuilding-Exkurs oder gemeinsame Abendessen, gehören zu einer gesunden Unternehmenskultur. Sie bieten Raum zum Austausch, stärken die Bindung im Team und ermöglichen den Perspektivwechsel. Es geht jetzt darum, die richtigen Fragen zu stellen, beispielsweise, was für die Angestellten eine gute Unternehmenskultur und einen guten Arbeitstag ausmacht. Es geht darum, Mitarbeitenden gegenüber Wertschätzung und Respekt entgegenzubringen, indem entsprechende Maßnahmen aus den Antworten resultieren. Personalverantwortliche sollten Führungskräfte zudem darin unterstützen, die Kernwerte des Unternehmens vorzuleben. Und nicht zu vernachlässigen ist: Jene, die sich entscheiden zu gehen, mit Anstand zu verabschieden.

 

Quellen